Ein unglaublich nervenaufreibendes, geniales Buch, das nahezu jedes mögliche Tabu-Thema streift und dabei die japanische Gesellschaft stark kritisiert.
Der neue Roman von Japans Erfolgsautorin Sayaka Murata erzählt die Geschichte zweier Außenseiter, Natsuki und ihr Cousin Yu, die sich jung verlieben und gemeinsam gegen eine Welt verbünden, die ihnen beileibe nicht nur Gutes will. Im alten Farmhaus der Familie, in dem früher die Seidenraupen ihren Dienst verrichteten, sind sie glücklich, denn sie sind beieinander. 20 Jahre später geht Natsuki an diesen Ort zurück … Die Magie dieses Romans spinnt uns ein in einen irisierenden Kokon der Fremdheit und entlässt uns schließlich in eine Realität, in der alles möglich ist.
Wow, dieses Buch musste ich erst mal eine Weile sacken lassen. Kannibalismus, Kindesmissbrauch, Mord, Inzest – Sayaka Murata lässt in ihrem neuen Roman „Das Seidenraupenzimmer“ kein Tabu-Thema aus. (Ich bemühe mich, bei den genannten Triggern nicht ins Detail zu gehen.) Der Plot klingt dabei sehr simpel: Ein junges Mädchen und ihr Cousin Yu fühlen sich nicht so richtig zugehörig, weder ihrer Familien noch den Menschen im Allgemeinen. Durch einen Kommentar, den Yus Mutter nebenher fallen lässt, ist er der festen Überzeugung, dass er ein Alien von einem anderen Planeten ist. Für Natsuki, die ein Kuscheltier besitzt, das sie ebenso von einem fremden Planeten vermutet, ist das natürlich Schicksal, und so planen sie und Yu ihre Heimkehr zum Planeten Pohapipinpopopia, um dem Leben in der „Fabrik“ zu entkommen. Doch als die beiden von ihrer Familie beim Sex erwischt werden, bricht die Hölle los und ihnen wird verboten, sich wiederzusehen. Dies hält ganze 20 Jahre an. Doch als Natsuki und Yu dann im Haus ihrer Kindheit aufeinandertreffen, ist alles wie früher und nichts scheint sich verändert zu haben: Anstatt dass die beiden der „Aliensache“ entwachsen sind, glauben sie nach wie vor daran, dass sie ursprünglich von einem fremden Planeten stammen und nicht zu den Menschen und deren gesellschaftlicher Regeln gehören. Denn die „Fabrik“ ist das Konstrukt von Familie und vom Leben allgemein, dem alle Menschen streng folgen müssen: Das eigene Leben, der eigene Körper muss der Fabrik der „Erdlinge“ durch Arbeit, Familie und, sobald wie möglich, Nachwuchs, zur Verfügung gestellt werden. Während Yu sich all die Jahre vorbildlich in dieses Bild eingefügt hat, um nicht ausgeschlossen zu werden, hat Natsuki im kleinen Rahmen rebelliert, um den Fängen der Fabrik zu entkommen: Sie suchte online einen Mann wie sie, der sich auch nicht in das soziale Gefüge einordnen will, und der idealerweise ebensowenig Interesse an Körperlichkeiten hat wie sie. So kann das Ehepaar im Geheimen ein Leben führen, wie es will, und werden dabei noch von ihren Familien in Frieden gelassen. Sobald Natsuki also wieder auf Yu trifft, schüttelt dieser schnell die für die Fabrik angeeigneten Eigenschaften ab und gemeinsam mit ihr und ihrem Mann begeben sich die Drei an einen dunklen Ort, an dem es kein Zurück gibt…
Wir hatten es beide im Gefühl. Nicht mehr lange, und die Fabrik würde einen Gesandten nach uns ausschicken. Da wir die Fabrik sabotierten, würde man uns demnächst zurückholen. Ich sehnte diesen Gesandten herbei. Er würde uns in die Fabrik zurückbringen. Und dort würde man, als sei das gar nichts, meinen Mann zur Arbeit und mich zum Gebären zwingen. Und alle würden uns unentwegt erklären, wie wunderbar das war. Auf diesen Moment wartete ich. Dann wäre die Gehirnwäsche komplett, und unsere Körper würden Teil der Fabrik. Weder meine Gebärmutter noch die Hoden meines Mannes würden mehr uns gehören.
Hach, dieses Buch! Anfang des Jahres hatte ich bereits das Glück, die englische Ausgabe über Netgalley zu lesen und war schon da so begeistert, dass ich natürlich auch die deutsche Übersetzung von der Meisterin Ursula Gräfe lesen musste. Gesagt, getan. Und auch das zweite Mal kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Schon Muratas erster Roman, „Die Ladenhüterin“, hat mich mit seiner nüchternen, dennoch einnehmenden und irgendwie typisch japanischen Sprache komplett für sich gewonnen, aber „Das Seidenraupenzimmer“ legt gefühlt noch eine Schippe drauf. Und zwischen den krassen Ereignissen schimmert doch immer wieder das Kernthema des Romans durch: Die Pflicht, sich in Japan in die Gesellschaft einzufügen. Denn dort gibt es kein Individuum, sondern nur das große Ganze. Wer nicht dazu passt, wird von der Familie gedrängt, jetzt doch endlich zu heiraten/sich einen Partner zu suchen/einen festen Job zu finden/etc. Wer sich darauf nicht einlässt, wird von der Gesellschaft verstoßen. Vermutlich deshalb gibt es in Japan auch so viele Hikikomori – Menschen, die sich diesem Druck entziehen möchten und komplett vereinsamt leben.
Doch zurück zum Buch: Natsuki ist eine unglaublich tragische Heldin. Als Nesthäkchen ist sie in ihrer Familie stets das fünfte Rad am Wagen, ihre ältere Schwester erhält die ganze Liebe der Eltern. Ihre Mutter missbraucht sie als emotionalen Fußabtreter und lässt an Natuski regelmäßig ihre schlechte Laune aus. Als Natsuki ihrer Mutter beichtet, dass ihr Lehrer sie „komisch angefasst“ habe und sie auch sonst sonderbar behandelt, erfährt sie nur Unverständnis: Wie könne sie es wagen, so schmutzige Gedanken zu haben und sich so etwas auf sich einzubilden?! Natsukis Mutter ist wirklich der schlimmste Charakter, den ich seit langem in einem Buch erfahren habe. Bei jeder Interaktion zwischen den beiden rollten sich mir die Zehennägel hoch. Vor allem scheint Natsuki nach jahrelanger Vernachlässigung durch ihre Familie auch der festen Überzeugung zu sein, dass sie diese Behandlung verdient hat und sich nur mehr anstrengen muss, der Fabrik nützlich zu sein. Neben den ganzen Tabu-Themen, die dieses Buch thematisiert, ist der seelische Missbrauch an Natsuki doch das, was ich am schlechtesten verdauen konnte.
Als Magical Girl hatte ich gelernt, mich »wegzaubern«, Was nicht hieß, dass ich wirklich verschwand, sondern dass ich mich ganz still verhielt, bis ich quasi nicht mehr anwesend war. Sobald ich mich »wegzauberte«, wurden die drei zum Inbegriff einer Familie, so glücklich wirkten sie, wenn sie beieinander waren. Um ihretwillen bemühte ich mich diesen Zauber so oft wie möglich anzuwenden.
Fazit: Meisterhaft geschrieben, kraftvoll und mit einer solchen Sogwirkung, dass man weiterlesen muss, bis die letzte Seite umgeblättert ist, hat Sayaka Murata hier sozusagen ein Follow-up zu ihrem Bestseller „Die Ladenhüterin“ vorgelegt. Ihr erster Roman ist das krasse Gegenteil zum „Seidenraupenzimmer“, während es doch im Grunde dasselbe Thema behandelt: die Erwartungen der Gesellschaft und wie man entweder mit oder gegen den Strom schwimmt. Ich habe wirklich jede Seite dieses kurzen und enorm kurzweiligen Romans geliebt und freue mich auf jedes Bröckchen, das Murata-Sensei uns noch zuwerfen mag.
Weitere Meinungen zum Buch: Bücherkaffee | Japanliebe
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Aufbau Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Sayaka Murata / Das Seidenraupenzimmer / Aufbau Verlag / Gebundenes Buch, 256 Seiten / ISBN: 978-3-351-03793-2 / Erschienen am 15.06.20 / zur Verlagsseite
Huch, gerade am Ende gesehen, dass du zu meiner Rezension verlinkt hast. Vielen Dank ♀️
Wow, was für ein Buch. Ich bin ja froh, dass ich beim Lesen nicht als einzige aus den Latschen gekippt bin xD Sehr spannend, dass du’s zwei Mal in unterschiedlichen Sprachen gelesen hast. Es würde mich wirklich noch mehr im Detail interessieren, wie es beim zweiten Mal war. Für mich lebte das Buch viel von der Schockwirkung. Wie ist das, wenn man die Handlung schon kennt?
Hi Elisa,
Sorry für die sehr späte Antwort!
Ja das stimmt, der Schockeffekt war natürlich dann nicht mehr gegeben, da die erste Lektüre aber schon ein paar Monate zurücklag, wusste ich natürlich nicht mehr alle Details, weshalb es aufs Neue toll war, in diesen Roman abzutauchen. 🙂