Hochspannende Reportage, die sich um Sexroboter, den Freitod, outgesourcte Schwangerschaften und Laborfleisch dreht – hervorragend erzählt und analysiert.
Willkommen in Roboterland? In ihrem eindrucksvollen Debüt nimmt uns die britische Journalistin und Dokumentarfilmerin Jenny Kleeman mit auf eine faszinierende Reise in die Welt von morgen – die schon heute entsteht. Die technische Entwicklung wird bald alle Bereiche unseres Lebens komplett verändern: wie wir geboren werden, essen, Sex haben und sterben. Kleeman trifft die Entwickler von Sexrobotern, von Organen und Fleisch aus dem 3D-Drucker und von künstlichen Gebärmüttern. Hautnah beobachtet sie, wie High-Tech-Erfindungen unseren Alltag erobern. Eine hochspannende Live-Reportage aus den Labors unserer Zukunft, in denen die Grenzen des uns Bekannten radikal verschoben werden.
Was sich im Klappentext wie Sci-Fi liest, ist in Wirklichkeit eine Reportage, die die Autorin rund um den Globus führt. Jenny Kleeman widmet sich in „Roboterland“ vier hochinteresanten Themen: Sexrobotern, veganem Fleisch, Exogenese (ausgelagerte Schwangerschaft) und dem selbstbestimmten Tod. Dabei führt sie Gespräche mit Erfindern, Entwicklern und schließlich auch den Verwendern – bzw. den Menschen, die diese Produkte in Zukunft Verwenden möchten. Jenny Kleeman beschönigt nichts und stellt den Menschen hinter den Entwicklungen auch unangenehme Fragen, die nicht immer gern gehört werden. Bei allen vier Themen beleuchtet sie nicht nur den aktuellen Entwicklungsstand, sondern auch immer die kulturelle Bedeutung, die eine Marktreife mit sich führen würde: Wie würde sich diese Entwicklung oder dieses Produkt auf unsere Gesellschaft auswirken? Was würde sich verändern? Welche Chancen und Risiken entstünden dadurch? Im Nachwort betont die Autorin zwar, dass sich alle jene Dinge, die im Buch vorgestellt werden, noch in der Entwicklung und weit vom Massenmarkt entfernt sind, dennoch sind Sexroboter, veganes Fleisch etc. nicht so weit von der Realität entfernt, dass sie nah genug erscheinen, um ihre Markteinführung noch zu erleben. Kleeman hebt zudem hervor, dass alle vorgestellten Produkte und Ideen zunächst auch das „Uncanny Valley“, das Ekel- oder Grusel-Gefühl überwinden müssen – denn wenn ein Sexroboter aussieht wie ein Mensch, sich aber bewegt wie ein Roboter, ist das eben mehr gruselig als zum Kauf verlockend.
Jenny Kleemans Reportage ist unheimlich und zugleich unheimlich spannend. Im Folgenden möchte ich euch ein wenig über drei der vier Themengebiete erzählen.
Jenny Kleeman über Sexroboter
Dieses Kapitel fand ich mit am spannendsten, denn die Autorin geht tief in die Analyse der Gesellschaft und was ein Sexroboter mit ihr machen würde hinein. Überall auf der Welt findet gerade eine Art Wettrüsten mit Sexpuppen statt, die nach und nach mit einer KI ausgestattet werden und sich wie Menschen bewegen können sollen. So lebensecht wie möglich soll die Sexpuppe sein, aber trotzdem natürlich den jeweiligen Schönheitsstandards entsprechen. Individuelle Puppen sind ebenfalls möglich und können, wenn gewünscht, der Ex-Freundin nachgebildet werden. Kleeman spricht mit den Entwicklern (tatsächlich allesamt Männer), deren Motivation unterschiedlicher nicht sein können. Bereits der erste, mit dem sie spricht, erzählt, dass Männer sich an solchen Sexpuppen (später dann Robotern) „abreagieren“ könnten, wenn sie eigentlich das Verlangen hätten, eine Frau zu schlagen – oder weiter zu gehen, denn „der Roboter spürt nichts, versprochen!“ Dass das höchst problematisch ist, erkennt auch Kleeman, und grübelt über Rape-Culture, Incels, die es als ihr „Recht“ ansehen, mit Frauen zu schlafen, und dem Ersatz eines Opfers durch einen Roboter. Fördert man damit nicht genau solches Verhalten, anstatt das Problem bei der Wurzel zu packen? Wenn Pädophile ihre Neigung an Kinderpuppen ausleben dürften, würde man etwas für oder gegen tatsächliche Überfälle auf Kinder tun? Verrohen und verkümmern unsere zwischenmenschlichen Beziehungen nicht, wenn Sexroboter den Markt fluten?
Veganes Fleisch
Fleischersatzprodukte sind gerade wortwörtlich in aller Munde, mehr und mehr Menschen entscheiden sich gegen eine carnivore Ernährung und im Labor gezüchtetes Fleisch machte bereits das ein oder andere Mal Schlagzeilen in den Medien. Wie weit die Entwicklungen aber tatsächlich fortgeschritten sind, weiß niemand – außer Jenny Kleeman, nachdem sie ihre Tour bei vielerlei Herstellern abgeschlossen hat. Die Autorin stellt dabei nicht nur die Herstellung des veganen Fleisches vor (die so ziemlich das un-veganste ist, was man sich vorstellen kann), sondern beleuchtet auch die vielen Probleme, die eine carnivoren Ernährung heutzutage mit sich bringt – und warum sie trotzdem Fleisch isst. Kleeman erläutert, dass wir all die Nachteile von industriell hergestelltem Fleisch gerne auf uns nehmen – einzig und allein aufgrund einer geschmacklichen Vorliebe. Da dies bei der immer weiter wachsenden Bevölkerung der Menschheit exorbitant problematisch wird, wagt sie einen Blick hinter die Kulissen von den Herstellern von „Clean Meat“ oder „Kulturfleisch“.
So wird die Tierrechtlerrevolution also am Ende gewonnen werden: nicht durch die schrecklichen Undercover-Videos aus Tierlaboren, nicht durch Brandanschläge auf Geschäfte, in denen Pelzmäntel verkauft werden, sondern indem man uns Fleischfressern einen Ersatz für unser Fleisch gibt, durch den wir unser vermeintliches Recht, auf Kosten von Tieren zu leben, überdenken.
Exogenese: Die ausgelagerte Schwangerschaft
Manche Mütter wünschen sich Kinder, wollen aber nicht schwanger werden. Das wird kaum offen ausgesprochen, ist aber eine Tatsache. Es gilt als unnatürlich oder gar ketzerisch, sich ein Baby ohne Schwangerschaft zu wünschen.
Das bringt das Problem auf den Punkt. Zusätzlich gibt es auch Menschen, die nicht schwanger werden können, die kein Geld für eine Leihmutter haben, plus gleichgeschlechtliche Paare, die noch auf jemand Drittes angewiesen sind, der zur Schwangerschaft beiträgt. In diesem Kapitel beleuchtet Kleeman, welche Entwicklungen es für Schwangere gibt – wie etwa den Baby-Beutel. Dieser wird derzeit an Lammföten getestet, die in diesem durchsichtigen Plastikbeutel wie im Bauch der Mutter mit Nährstoffen versorgt werden und sich so weiterentwickeln können. Diese Erfindung ist primär gedacht, um extreme Frühchen zu retten, könnte aber auch denkbar sein, um Frauen, die sich gegen eine Schwangerschaft im eigenen Körper entscheiden, trotzdem einen Kinderwunsch zu ermöglichen. Kleeman spricht mit den Entwicklern dieser Technologien und über das Geschäft mit der Schwangerschaft – denn Leihmütter weltweit werden schamlos ausgebeutet: Wird ein Kind mit einer Behinderung geboren, wird dieses von den Eltern häufig nicht angenommen; tritt eine Fehlgeburt ein, wird die Leihmutter meist nicht bezahlt. Die Fassungslosigkeit wird jedoch schnell von Hoffnung und Freude abgelöst, denn Kleeman spricht mit einem Wissenschaftler, der daran arbeitet, wahlweise Spermien oder Eizellen aus entsprechendem Material zu züchten, was gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichen würde, ohne eine dritte Person Kinder zu bekommen. Wie weit das jedoch noch in der Zukunft liegt, ist schwer zu beurteilen.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Goldmann Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Jenny Kleeman / Roboterland / Goldmann Verlag / Taschenbuch, 416 Seiten / ISBN: 978-3-442-31601-4 / Erschienen am 10.05.21 / zur Verlagsseite