Ein spannender Roman im Stil von „Herr der Fliegen“ – nur deutlich realistischer und deshalb viel verstörender.
Ein abgeschiedenes Dorf. Leere Bauernhöfe. Eine aufgelassene Schule. Die Erwachsenen haben nach und nach das Dorf verlassen. Zurückgeblieben sind die Kinder. Sie empfangen Pakete und Geld. Sie kochen, putzen und pflegen die Großeltern und kleinen Geschwister. Scheinbar soll Krieg herrschen rundherum. Als auch der einzige Lehrer das Dorf verlässt, beginnen die Kinder, ihre eigenen Gesetze und Regeln aufzustellen. Was harmlos beginnt, wird rasch zu einem System aus Gewalt und Macht, dem sich alle zu unterwerfen haben. Nur Mila will sich nicht beugen und wird zur Außenseiterin, die bis zum Ende für das Gute kämpft.
Lucia Leidenfrosts Roman „Wir verlassenen Kinder“ beginnt direkt mittendrin: im Dorf der verlassenen Kinder. Einige der letzten Eltern verabschieden sich gerade von ihren Kindern, versprechen, sie bald nachzuholen. Wohin geht ihre Reise? In die Stadt, wo es Arbeit gibt. Doch Genaueres erfahren die Kinder und somit auch der Leser nicht. Ein banges Warten erfüllt das Dorf. Kommen die Eltern zurück? Doch je mehr Zeit verstreicht, desto hoffnungsloser werden die Kinder. Und als die letzten Großeltern versterben oder ebenfalls in die Stadt ziehen, um im Krieg zu dienen, bricht der letzte Funken der Vernunft weg und die Kinder entwerfen Regeln, an denen sie sich alle halten müssen – sonst droht eine Strafe. Wie Mila etwa, nachdem sie in die leerstehenden Häuser eingedrungen ist und für ihre Geschwister das Lebensnotwendige zusammengeklaubt hat. Es entsteht eine Spirale aus Gruppenzwang und Gewalt, und keiner möchte als Außenseiter gelten oder sich selbst eine Strafe kassieren, wenn er sich gegen den Willen der restlichen Kinder sträubt. So fällt nach und nach die Individualität der Kinder weg; nur Mila als Bestrafte, als Außenseiterin, bewahrt sich noch ihr Selbst. Sie ist auch die Einzige (mit ihren Schwestern), deren Elternteil noch in der Stadt ist – der Bürgermeister wacht über das Telefon und bringt gelegentlich die Kinder mit ihren Eltern zusammen, wenn auch nur für die Dauer eines kurzen Telefonats. Doch im Nacken ihres Vaters sitzt eine dunkle Kreatur, die Mila nur als „die Spinne“ bezeichnet, die den Bürgermeister mit dunklen Gedanken füttert und ihn cholerisch werden lässt. Im Dorf beginnt mit dem Wegfall der Alten also nicht nur der nackte Kampf ums Überleben, sondern auch Milas ganz persönlicher Kampf gegen die Spinne. Die Spinne, die mehr und mehr Besitz von ihrem Vater ergreift. Die Spinne, die zu ihm kam, als ihre Mutter gestorben ist.
Im Dorf kann man nicht bleiben. Alle haben immer gesagt, dass sie die Kinder nachholen werden. Wenn sie sichere Arbeit gefunden haben, wenn alles geklärt ist. Die Arbeit ist nicht sicher, der Aufenthalt nicht geklärt, der Konflikt wird zum Krieg werden und das Leben anders. Alle denken immer später, ich sage, später kommt nicht.
Lucia Leidenfrost erzählt aus verschiedenen Perspektiven, wie sich das Leben der Kinder entwickelt. Dabei erzählt sie stets aus der „Ich“-Perspektive – außer bei Mila, die sich ja von den Anderen abgesondert hat und nicht zur homogenen Masse der Kinder zählt. Hier greift die Autorin zur betrachtenden Erzählperspektive der dritten Person. Deshalb können wir auch nicht komplett in die Gedankenwelt Milas eintauchen. Die Erzählsprache zeichnet sich jedoch durch eine Liebe zum Detail aus, poetische Formulierungen reihen sich an nüchterne Betrachtungen, z. B. wenn jemand stirbt und die Kinder so unfassbar gelassen sind. In solchen Fällen bringt die Autorin so eine gewisse Distanz zwischen den Leser und die unwirklichen, ungeheuerlichen Dinge, die sich im Dorf zutragen, wobei das erschreckende Gefühl entsteht, dass dies alles zur Normalität gehört.
Es gibt zu keinem Zeitpunkt Anhaltspunkte, was genau mit den Eltern geschieht, sobald sie das Dorf verlassen. Gehen sie in der Stadt wirklich einer Arbeit nach und holen die Kinder, sobald es ihnen irgend möglich ist? Und gibt es dort tatsächlich einen Konflikt oder sogar einen Krieg? Mehr, als die kurzen Telefonate, oder die Päckchen, die die Kinder noch zeitweise erreichen, finden wir leider nicht heraus. Und das ist auch das Spannende, das mich als Leser angetrieben hat, immer weiter zu lesen. Gibt es noch eine Auflösung? Kommen die Eltern zurück?
Fazit: Eine ungewöhnliche Geschichte in einem gruseligen Szenario, die Lucia Leidenfrost da entworfen hat. Als ich das erste Mal von diesem Buch dachte, musste ich sofort an den „Herr der Fliegen“ denken. Der Vergleich hinkt vielleicht gar nicht so sehr. Dennoch ist „Wir verlassenen Kinder“ keine Kopie, sondern vielmehr die Umpflanzung in ein realistisches Szenario, in dem die Kinder sich an grundlegende moralische Regeln halten (sie stehlen z. B. nicht oder betreten die leerstehenden Häuser ebenfalls nicht, die von anderen Erwachsenen bewohnt wurden), aber doch einen eigenen Regelkodex entwickeln, der zeigt, was sie eben doch noch sind: Kinder.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Kremayr & Scheriau Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Lucia Leidenfrost / Wir verlassenen Kinder / Kremayr & Scheriau Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 192 Seiten / ISBN: 978-3-218-01208-9 / Erschienen am 04.02.19 / zur Verlagsseite
Mich konnte das Buch auch total begeistern. Ich hätte mir an der einen oder anderen Stelle etwas mehr Informationen gewünscht. Auch hätte ich gerne ein paar Seiten mehr gehabt. Die Idee des Buches ist sehr interessant und gleichzeitig so krass. Aber endlich mal wieder eine andere Art von Buch. Solche gibt es gefühlt nur noch selten.
GlG, monerl
Für mich wichtige Frage: Gibt es eine Auflösung oder bleibt alles offen?
Meine Meinung: Das Ende ist offen und lässt ein Nachdenken und Diskutieren zu. Ein super Buch für Leserunden oder Buddyreads. 🙂
Klingt nach einem spannenden Buch, danke für die Rezi!
LG, Zeilentänzerin
Das hatte ich zuerst in der Rezension drin, habe es dann aber doch noch rausgenommen, da es doch den Reiz nimmt, das Buch selbst zu lesen – finde ich. 😉