Eine gelungene Zukunftsvision über unseren Selbstoptimierungswahn und die schöne Welt der Start-ups – beklemmend!
Vier junge Visionäre gründen in Berlin ein Start-Up up und entwickeln zusammen eine App: das sogenannte Ting, das körperbezogene Daten seiner Nutzer sammelt, auswertet und auf dieser Grundlage Handlungs- und Entscheidungsempfehlungen gibt. Das Prinzip Ting überzeugt – die App schlägt ein wie eine Bombe. Getrieben vom Erfolg entwickelt Mitgründer Linus die Möglichkeiten immer weiter, sein eigenes Leben und das der User mithilfe des Ting zu optimieren. Doch um neue Investoren für die Firma zu gewinnen, sind er und sein Team bald gezwungen, sich auf ein gefährliches Spiel einzulassen: Sie verpflichten sich vertraglich, künftig unter allen Umständen jeder Empfehlung des Ting zu gehorchen – mit verheerenden Folgen.
Auf dieses Buch freue ich mich schon seit einer ganzen Weile und habe es nun im Rahmen einer Lovelybooks Leserunde gelesen. Das Erste, was ich nach der Lektüre und beim Verfassen dieser Zeilen sagen muss, ist dass der Klappentext vielleicht ein wenig irreführend ist. Es gibt zu keiner Zeit User außer den vier Gründern und die Geschichte erreicht nicht den Punkt der Marktreife, wo das Ting tatsächlich auf die Welt losgelassen wird. Aber Schluss mit der Haarspalterei, denn „Das Ting“ von Artur Dziuk hat mich mit seiner Geschichte so begeistert, dass ich es Samstagabend begonnen habe und sonntags erst mit dem Lesen aufhören konnte, als ich den Buchdeckel zugeklappt habe. Aber mal von Anfang an: Linus und Adam arbeiteten bereits im Studium am Ting – einer App, die verschiedenste Nutzerdaten erhebt und verwendet, um Empfehlungen zu geben, wie man sich in einer bestimmten Situation entscheiden oder verhalten soll, also bspw. Obst essen, wenn dem Körper Vitamine fehlen, oder einen wichtigen Termin abzusagen. Adam stiehlt Linus‘ Idee für seine eigene Masterarbeit, doch Jahre später raufen die Beiden sich wieder zusammen, um das Ting groß zu machen. Fehlen nur noch Coder und Geldgeber und die Sache dürfte in trockenen Tüchern sein. Doch obwohl sie in Niu und Kasper zwei fähige Mitgründer rekrutieren, gibt es noch einige Hürden zu meistern, bevor das Ting auf den Markt gebracht werden kann. Und um zu gewährleisten, dass das Ting keine gesetzeswidrigen oder anderweitig moralisch verwerflichen Empfehlungen ausspricht, testen die Gründer das Optimierungs-Tool zunächst selbst – und halten in einem Zusatzvertrag fest, dass sie jeder Empfehlung Folge leisten werden, egal wie absurd sie auch sein mag. Adam wird so genötigt, einen „alten Köter“ auf der Straße zu küssen, und Linus soll nichts weiter als seine langjährige Beziehung beenden.
Was zu Beginn recht harmlos oder witzig klingt (zumindest für Adams Teil), wird für Linus schnell zum Alptraum: Soll er seine Beziehung wirklich beenden und dem Ting wie vereinbart sein Leben ausliefern oder bricht er den Zusatzvertrag und verliert seine Unternehmensanteile? Und auch Niu und Kasper haben zu kämpfen, zwar nicht mit dem Ting, aber mit ihren eigenen Problemen: Niu hat „vor dem Ting“ nach strikten Tagesabläufen gelebt, jeder Tag sah bei ihr gleich aus und mit Menschen umgehen vermied sie, so weit sie das konnte. Kann das Ting ihr helfen, ein „perfekter Mensch“ zu werden, ganz treu dem Motto des Start-ups?
Mensch sein heißt Entscheidungen treffen. Perfekte Entscheidungen treffen heißt, ein perfekter Mensch zu sein. Das Ting macht dich zum perfekten Menschen.
Kasper hingegen ist nicht in sich und selbsterlegten Strukturen gefangen, sondern in seiner Familie. Sein Großvater gründete einst Strindholm Consulting, das Unternehmen, bei dem sich Linus zu Beginn des Buches bewirbt und für das auch Adam tätig war. Kasper arbeitete bis zur Gründung des Start-ups als Assistent des Geschäftsführers (sein Vater), mit dem Gedanken daran, bald aufzurücken und selbst das Familienunternehmen zu leiten. Doch sein Vater ist noch nicht darüber hinweg, dass Kasper seine letzte Gründung gegen die Wand gefahren hat – und das setzt Kasper zu. Er ist von Anfang an kritisch gegenüber dem Ting eingestellt und ist auch gegen das Genetik-Update, das später verbaut werden soll, damit die User potenzielle Erbkrankheiten frühzeitig behandeln lassen können. Generell sind einige Aspekte des Tings fragwürdig: Zu Beginn des Buchs erhält der Nutzer noch eine Push-Nachricht auf das Handy, sobald das Ting eine neue Empfehlung bereithält, was natürlich ziemlich unpraktisch ist. Mein erster Gedanke wäre ein Armband mit Sensoren, ähnlich der Fitness-Bänder, die es bereits heute gibt. Doch Artur Dziuk treibt seine Zukunftsvision auf die Spitze, indem das Ting eine Komponente erhält, mit der die User die Empfehlungen direkt in ihren Kopf bekommen – quasi als „Bauchgefühl“, das mit der eigenen Stimme einen Gedanken formuliert. Später gehen die Entwickler noch weiter und rücken das Ting in den Hintergrund, indem es nur noch unterbewusst wahrgenommen wird, man also nicht mehr den eigenen Gedanken von einer Empfehlung unterscheiden kann. Das soll das Ganze intuitiver und natürlicher machen. Bis zu den Push-Nachrichten über Gesundheitsupdates war ich noch voll dabei, aber wirkliche Lebenshilfe – und das direkt in meinen Gedanken? Sehr gruselig!
Mit der Verwendung der Beta-Version heftete sich ein Fremdkörper an ihn. Als ob der eigene Schatten sich verändert hätte, zu einem Ding mit Sinnen, das ihn unablässig beobachtet. Mehrmals hatte er sich vergewissern müssen, alleine im Raum zu sein.
Wie das Ting genau funktioniert, hat der Autor auch ziemlich schlau gelöst: nämlich gar nicht! Auf die Frage, ob Linus sich etwas implantiert hat, gibt es keine Antwort, und der Leser erhält auch keinerlei technische Informationen, außer, dass das Ting installiert werden muss und aus China geliefert wird. Wie es aussieht, wohin man es installiert und wo die ganzen Sensoren stecken, erfahren wir nicht. Ein gelungener Kunstgriff, denn bereits einige andere Dystopien sind an der Beschreibung der Technik gescheitert und das ganze Konzept wirkte unglaubwürdig – das war es dann mit der Immersion. Doch beim Ting ist es gerade diese Aussparung, dass ich es dem Autor und auch den Charakteren richtig abkaufe, dass das Ting existiert.
Wo wir gerade bei gelungen sind – das war auch die Erzählsprache und das Tempo! Klar, es gab Kapitel, in denen nicht so wahnsinnig viel passiert ist, aber dass ich dieses Buch in einem Rutsch ausgelesen habe (Schlafen mal rausgerechnet), spricht sehr für das Talent des Autors, zu fesseln, den Leser richtig in die Geschichte reinzusaugen. Natürlich hätte ich noch weitergelesen, wie es nach dem Ende des Buchs weitergeht, denn bevor man als Normalsterblicher das Ting ausprobieren oder gar kaufen kann, ist die Geschichte auch schon zu Ende. 460 Seiten sind wie im Flug vergangen und man würde am liebsten sofort zur Fortsetzung greifen – falls es denn jemals eine geben wird. Nur ungern habe ich mich von den Charakteren getrennt (okay, von Kasper ist mir der Abschied nicht sehr schwer gefallen) und hätte gerne noch den weiteren Weg verfolgt.
Fazit: Die Selbstoptimierung unserer heutigen Zeit wird in Artur Dziuks „Das Ting“ auf die Spitze getrieben. Was, wenn wir uns nicht mehr selbst Gedanken um die permanente Verbesserung unseres Lebens machen müssen? Ein paar kleine Empfehlungen des Tings können große Dinge bewegen – das erhoffen sich zumindest alle Beteiligten. Ein spannendes Buch, das sich meiner Meinung nach vielleicht auf das Start-up-Life versteift, wo ich gerne Nutzertests und Ting im „wilden Leben“ gesehen hätte – aber dennoch komplett überzeugen konnte mit ausgereiften, nicht immer sympathischen Charakteren, die alle Schwächen und Stärken haben und auch nicht immer die besten Entscheidungen treffen – selbst, wenn sie müssen.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise von Lovelybooks und dem Verlag im Rahmen einer Leserunde zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Artur Dziuk / Das Ting / Gebundene Ausgabe, 464 Seiten / ISBN: 978-3-423-23006-3 / Erschienen am 16.09.19 / zur Verlagsseite
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