Ein Roman über eine fremde Kultur, der schwer zu greifen ist und ans Experimentelle grenzt.
Ein Städtchen am Rande des Eismeers im Norden Kanadas. Eine Kindheit, geprägt von der übermächtigen Natur und einem sich auflösenden Zusammenhalt. Ein mutiges Mädchen, das die alten Mythen entdeckt und erwachsen wird. Tanya Tagaq erzählt poetisch, sinnlich, mit großer Kraft. Der Winter ist vorbei und damit die Zeit, die die Kinder im Haus verbringen müssen, weil es draußen bitterkalt ist, hoch im Norden Kanadas, am Rande des Eismeers. Im Frühling haben die Kinder das Städtchen in der Hand, streunen auf der Suche nach Abenteuern durch die Straßen und durch die Tundra. Nach so wilden Abenteuern, dass sie dabei sogar das Leben riskieren. Die Erwachsenen sind mit eigenen Problemen beschäftigt und können keinen Halt bieten. Im Gegenteil.
Tanya Tagaqs „Eisfuchs“ fiel mir wegen seiner tollen Aufmachung und des mystisch anmutenden Klappentextes in der Frühjahrsvorschau vom Kunstmann Verlag positiv auf. Doch die Lektüre entpuppte sich nicht als bekömmlicher Coming-of-Age Roman, der in einer für mich fremden Kultur spielt, sondern schlug viel tiefere Kerben, verzauberte und entsetzte zugleich und ließ mich sprachlos (und zugegeben ziemlich verwirrt) zurück. Denn Tanya Tagaq, die eigentlich eine inuitsche Kehlkopfsängerin und Performance-Künstlerin ist, gibt nicht einfach das Heranwachsen eines jungen Mädchens wieder – sie räumt auch auf mit dem bis 2019 verschwiegenen Genozid an indigenen Frauen und Mädchen in Kanada. Das tut sie jedoch sehr expressionistisch und extravagant (wie auch ihre Musik), sodass man nur schwerlich mitkommt. Doch zunächst etwas zum Inhalt: Die namenlose Erzählerin wächst in den 70er oder 80er Jahren in Nunavut auf, einer Region hoch im Norden Kanadas. In dieser unwirtlichen Gegend lebt das Volk der Inuit. Die Gemeinschaft beginnt zu zerfallen, die Erwachsenen flüchten sich in die Sucht und die Kinder werden sich selbst überlassen. Während der wärmeren Jahreszeiten spielen die Kinder draußen, doch wenn es dunkel wird, flüchten sich alle in ihre Iglus und versuchen, sich mit einer Partie Flaschendrehen bei Laune zu halten. Wenn es schließlich Zeit ist, nach Hause (oder in das Kinderheim) zu gehen, werden viele Mädchen Zeugen von Missbrauch. So auch unsere Protagonistin.
Ich besteige den Eisbären und reite auf seinem Rücken. Die Schenkel, die ich an ihn drücke, pulsieren und senden prickelndes Licht aus. Wir sind Liebende. Ein Ehepaar. Er schwimmt mit ungeheurer Kraft, und wir bewegen uns schnell voran. Er beschützt mich, und ich berausche mich an seiner Majestät.
Zu Beginn der Geschichte ist sie noch ein ängstliches kleines Mädchen, das nur irgendwie zurechtkommen möchte in dieser kargen Welt. Ihr näheres Umfeld liegt für mich allerdings etwas im Dunkeln, denn zu Beginn scheint sie in einer Art Heim zu schlafen, im Laufe des Buches jedoch wohnt sie bei ihren Eltern. Tagebuchartige Abschnitte wechseln sich mit zahlreichen Gedichten, Traumsequenzen, die einen starken spirituellen Einschlag haben und kulturellen Erzählungen ab. Letztere hätte ich mir gerne noch häufiger gewünscht, denn es war äußerst spannend, in diese komplett fremde Kultur einzutauchen. Die Tagebuchabschnitte vermischen sich jedoch im Verlauf der Geschichte mit den Traumsequenzen, und nicht immer ist verständlich, was nun real ist und was nicht. Einzig die Gedichte geben ein wenig Aufschluss darüber, wo wir uns gerade befinden. Ich sage hier bewusst „ein wenig“, denn viele Informationen lassen sich aus ihnen leider nicht ziehen. Zu abstrakt, zu „speziell“ ist die Sprache. Tanya Tagaq malt die wildesten Szenen, und der Beischlaf mit den Polarlichtern ist davon nur eine. Was anfangs noch neugierig macht, spitzt sich immer weiter zu und wird zunehmend abstrakter, ekstatischer und leider auch verwirrender.
Denn während sich unsere Protagonistin Tag für Tag durch dieses zerklüftete gesellschaftliche Umfeld kämpft und versucht, mit heiler Haut davonzukommen, eignet sie sich eine enorme Menge Mut und Selbstbewusstsein an. Doch wie dies genau geschieht, erschließt sich mir leider nicht. Am Ende von „Eisfuchs“ steht nicht länger ein Mädchen, sondern eine starke Frau, die ihren Platz gefunden hat.
Ich spüre, wie etwas in den Raum eindringt, von der oberen rechten Ecke her. Ich kann es nicht sehen, aber ich weiß trotzdem ganz genau, dass es da ist. Mein echtes Ich erkennt das Gefühl, es kennt den Ort, wo dieses Wesen herkommt, wo es lebt. Es gibt noch andere Wirklichkeiten, die neben unserer existieren; das nicht zu glauben wäre reine Dummheit.
Fazit: Die großartige, wenn auch nicht immer verständliche Erzählsprache verschwimmt leider hinter einer Geschichte, die sich mehr und mehr in Unverständlichkeiten verstrickt. Nach der Lektüre habe ich mich erst einmal zum Thema Inuit eingelesen und bin schließlich durch Instagram über Informationshäppchen gestolpert, die „Eisfuchs“ in Relation mit dem Völkermord an Inuit-Frauen in Kanada setzen. Auch der Begriff der „Residential School Systems“ fiel. Diese religiösen Schulen wurden in Kanada errichtet, um die Inuit an die sogenannte „euro-kanadische“ Kultur zu assimilieren. Wenn man diese Informationen liest und sich dann an das Gelesene zurückerinnert, mag man den Zusammenhang möglicherweise auch erkennen. Doch ohne dieses Vorwissen wirken Teile der Geschichte seltsam isoliert, obwohl sie doch dazu gehören. Um es kurz zusammenzufassen, kann ich dieses Buch nur mit Einschränkung weiterempfehlen – nämlich all denen, die sich an spezielle, unerklärliche Literatur herantrauen. Und sich dabei vielleicht etwas weniger schwer tun bei der Interpretation wie ich. Erfreulicherweise ging es offensichtlich jedoch nicht nur mir so; ich habe euch ein paar weitere Besprechungen zum Buch unten verlinkt. Und damit ihr in die richtige Stimmung kommt, könnt ihr beim Lesen auch gleich die passende Musik hören – die von Tanya Tagaq. Denn obwohl ich mit diesem Genre sehr wenig anfangen kann, passt ihre Musik doch hervorragend zu „Eisfuchs“ und gibt die Stimmung perfekt wieder.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Kunstmann Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Weitere Meinungen:
Buchstabenträumerei • Lesestunden • Leseschatz • Bookster HRO • Gassenhauer • Fräulein Julia
Tanya Tagaq / Eisfuchs / Kunstmann Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 196 Seiten / ISBN: 978-3-95614-353-3 / Erschienen am 11.02.20 / zur Verlagsseite
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