Postapokalyptische Zeiten sind gekommen – Yoko Tawada verwebt Linguistik, Umweltkatastrophe und Zwischenmenschliches zu einem ganz besonderen Buch.
Nach einer Katastrophe hat Japan die Verbindungen zur Außenwelt gekappt. Der über hundertjährige Yoshiro kümmert sich mit großer Liebe um seinen Urenkel Mumey. Die Kinder in der Zeit werden krank geboren, zugleich sind sie weise und fröhlich, ein Hoffnungsschimmer; die Uralten leben immer länger und scheinen nicht sterben zu können. Viele Tiere gibt es nicht mehr, Pflanzen mutieren, wie auch die Menschen. Als der Alltag schwieriger wird, versucht eine geheime Organisation, ausgewählte Kinder als „Sendboten“ zu Forschungszwecken ins Ausland zu schmuggeln…
Yoko Tawadas „Sendbo-o-te“ hatte ich bereits letztes Jahr in der englischen Übersetzung gelesen, die mich allerdings nicht überzeugen konnte. Die Autorin schreibt auf Japanisch und Deutsch („Sendbo-o-te“ verfasste sie auf Japanisch), und in dieses Buch sind sehr viele linguistische Feinheiten verwoben, die im Englischen anscheinend einfach untergegangen sind. Als ich dann entdeckte, dass es eine deutsche Fassung gibt (welche ich anhand des Titels zuerst gar nicht zuordnen konnte), war meine Neugier geweckt. Die Prämisse ist unglaublich spannend und ich erhoffte mir nur Gutes von den sprachlichen Besonderheiten. Und mein Gespür erwies sich als korrekt: Das Buch, das ich letztes Jahr enttäuscht zurück ins Regal stellte, konnte mich in deutscher Übersetzung ab der ersten Seite faszinieren und nachhaltig begeistern! In keinem Buch bisher habe ich so viele Eselsohren gemacht, auf jeder Seite gab es irgendeine Kleinigkeit, die ich so gelungen fand, dass ich sie mir merken wollte. Doch zunächst ein paar Worte zum Inhalt: Mumey wächst, wie alle Kinder seiner Generation, äußerst schwächlich und kränklich heran. Seine Zähne sind so weich, dass er nichts beißen kann, gegen so gut wie jede Nahrung rebelliert sein Magen, seine Haut muss nur einen Sonnenstrahl einfangen, um völlig auszutrocknen und er ist bereits vom Wechseln der Kleidung völlig erschöpft. Wie es so weit kam, wird in „Sendbo-o-te“ nie explizit erwähnt, jedoch schimmert durch, dass es sich um einen Vorfall nuklearer Art handeln muss. Da Mumeys Eltern starben und die Großeltern nicht mehr bei ihm wohnen, kümmert sich sein Urgroßvater Yoshiro mit großer Hingabe um ihn, der bei seiner Geburt nicht wie neugeboren aussah, sondern mehr wie „neu aufgebrüht“. Wir lesen vom Alltag der Beiden, ihrer Umwelt und vom geheimen Forschungsprogramm, für das Kinder aus dem Land geschmuggelt werden – um in anderen Ländern vielleicht eine Heilung für die jüngste Generation zu finden.
Wie fast allen Kindern seiner Generation fehlte Mumey die Fähigkeit, ausreichend Kalzium zu absorbieren. Wenn das so weitergeht, werden die Menschen zu zahnlosen Lebewesen mutieren.
Einen nicht geringen Aspekt nimmt die Linguistik in diesem Büchlein ein, denn zahlreiche Wortspiele, Anlehnungen aus dem Deutschen und Vermischungen aus Deutsch und Japanisch tummeln sich in Yoko Tawadas neuestem Buch. Dadurch, dass Japan sich abgeschottet hat und jegliche Fremdwörter im Sprachgebrauch verboten sind – selbst die Erwähnung fremder Länder wird bestraft – werden die Japaner kreativ und japanisieren alles, was nicht niet- und nagelfest ist. So ist die Rede von speziellen Brotsorten, die nach deutschen Städten benannt, jedoch japanisiert werden, also z. B. das Bremen-Brot Buremen, das wörtlich übersetzt Wackelnudel bedeutet. Oder das Dry Cleaning, das zu kuriningu, dem Kastanienmenschgerät, wird. Diese ganzen Wortspielereien sind (zumindest in meiner Erinnerung) in der englischen Übersetzung verloren gegangen, weshalb ich auf ca. jeder zweiten Seite mindestens einmal die Stirn gerunzelt habe. Der deutschen Übersetzung gelingt es aber tadellos, den dahinter liegenden Humor einzufangen und für einige Schmunzel-Momente zu sorgen.
Doch auch wenn Wortspiele und kuriose Japanisierungen einen großen Platz in Tawadas Roman einnehmen, liegt diesem Buch ja eine deprimierende Geschichte zugrunde. Die Alten werden immer älter – Menschen im Alter von 70 gelten dort als „junge Alte“ – und scheinen immer fitter zu werden, während die junge Generation immer schwächer wird. Viele Kinder sterben bereits in frühen Jahren, einige bauen schnell ab und sind bereits vor ihrem zehnten Geburtstag auf einen Rollstuhl und ein Beatmungsgerät angewiesen, weil ihr Körper einfach viel zu schwach ist, um normal zu funktionieren. Erstaunlich ist dabei, dass die jungen Menschen sich mit ihrer Situation abgefunden zu haben scheinen und nicht, wie man eigentlich erwarten würde, depressiv sind. Ganz im Gegenteil: Mumey ist beispielsweise ein aufgeweckter Junge, der sich für alles begeistern kann und selbst, wenn er sein Frühstück wieder mal erbricht, seinem Urgroßvater ein strahlendes Lächeln schenken kann. Yoshiro hingegen, der die Zerstörung der Umwelt und die Abwanderung der mittleren Generation miterlebt hat, wird von Traurigkeit geplagt, da er bereits weiß, dass er seinen Urenkel überleben wird. Durch das gesamte Buch zieht sich eine melancholische Stimmung, die nie wirklich aufklart. Es gibt kein Happy End, es gibt keine Heilung für die ganzen jungen Menschen, die alle in ihren dysfunktionalen Körpern gefangen sind. Yoko Tawada schafft es aber, dass das Buch trotz der Melancholie nie depressiv wirkt, sondern hält die Balance zwischen Kuriositäten aus dem Sprachgebrauch und der postapokalyptischen Welt. Besonders interessant fand ich die Tatsache, dass die junge Generation im Laufe ihres Lebens mehrmals das Geschlecht wechselt. Da in bestimmten Regionen alle weiblichen Babys konsequent getötet wurden, fand die Natur ihren eigenen Weg, für das Fortbestehen der Menschheit zu sorgen – so schwach die Körper der Kinder auch sein mögen.
Ich hasse es ja nicht, in die Schule zu gehen. Aber dass ich mich so schnell anziehen und zu einem festen Zeitpunkt da sein muss, das hindert mich daran, sie zu lieben. Ich kann doch nichts dafür, dass es so lange dauert, mich fertigzumachen. Kleider, Saft und Schuhe verweigern hartnäckig die Zusammenarbeit. Die Uhrzeiger denken nur an sich selbst und bewegen sich kaltblütig in ihre Richtung fort.
Fazit: Ich bin wirklich über alle Maßen froh, dass ich diesem Buch noch eine Chance gegeben habe! Die leise, aber dennoch sehr düstere Erzählung gewinnt durch Yoko Tawadas Liebe zur Sprache ein gewisses Etwas. Ich habe auch bereits viele dystopische Romane gelesen und muss sagen, dass mir diese hier mit Abstand am besten gefallen hat – besonders, weil sie so verdammt realistisch ist. Die Vermüllung unseres Planeten ist kein Novum mehr und jeder, der seine Nase in dieses Buch steckt, wird viele bereits bestehende Probleme wiederfinden. Yoko Tawada hat diesen Faden gekonnt weitergesponnen und zu einem äußerst feinen Lesestoff gewebt! Das Einzige, was mich ein wenig zur Weißglut getrieben hat, war das Lektorat. Es gibt viele Tippfehler und unzählige falsch gesetzte Kommata. Bestes Beispiel: »Du sagst, echt, noch Mama?« oder »Das sind, also, Babys.« – Da haben sich mir die Zehennägel ein wenig hochgerollt. Nichtsdestotrotz möchte ich eine dringende Leseempfehlung aussprechen – aber vielleicht warten die Interessierten auf die dritte Auflage. 😉
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Konkursbuchverlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Yoko Tawada / Sendbo-o-te / Konkursbuchverlag / Taschenbuch, 196 Seiten / ISBN: 978-3-88769-688-7 / Erschienen am 22.10.18 / zur Verlagsseite
Eine tolle Besprechung gibt es bei Japanliteratur.net!
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