Beklemmende, packende Dystopie mit einer großen Portion Kapitalismuskritik – kurzweilig und unfassbar gut!
Candace Chen treibt recht ziellos durch ihr New Yorker Leben. Tagsüber ist sie zuständig für die Herstellung von Bibeln in China, abends sieht sie sich mit ihrem Freund in ihrem Kellerappartement Filme an. Seit ihre Eltern vor nicht allzu langer Zeit gestorben sind, hat sie genug von jeder Form der Unsicherheit. So hingebungsvoll folgt sie ihren täglichen Routinen, dass sie erst gar nicht bemerkt, wie ein tödlicher Pilzsporen-Virus über New York hereinbrechen – ins Land gekommen durch billige, in China hergestellte Konsumgüter. Das Shen-Fieber greift rasant um sich: Geschäfte schließen. U-Bahnen stehen still. Menschen fliehen. Ihre Chefs überzeugen sie mit der Aussicht auf eine große Prämie, im Büro die Stellung zu halten. Bald ist sie fast ganz allein in New York, fotografiert die unheimliche, verlassene Stadt und stellt die Fotos auf ihren anonymen Blog NY Ghost.
Dieses Buch habe ich bereits 2018 auf Englisch gelesen und konnte mit der Geschichte und vor allem mit der Protagonistin damals nicht so viel anfangen. Da jedoch auch bei Yoko Tawadas „Sendbo-o-te“ der zweite Anlauf auf Deutsch wunderbar geklappt hat und ich das Buch danach sehr mochte, wollte ich Ling Ma auch eine weitere Chance geben. Und was soll ich sagen? Mein Plan ist aufgegangen und ich konnte „New York Ghost“ sehr viel abgewinnen, wobei sicher einerseits die deutsche Übersetzung dem zuträglich war, aber auch vielleicht einfach ein besserer Zeitpunkt für die Lektüre war. Denn hey, im Buch durchlebt die Protagonistin eine Pandemie und was 2018 noch wenig nachvollziehbar war, fühlt sich jetzt völlig anders an. Es geht also um eine junge Frau (Candace), die recht planlos durch ihr Leben streift und sich schließlich bei einem Job im Verlagswesen einfindet. Scheinbar wie aus dem Nichts wird das Shen-Fieber weltweit zum Nachrichtenthema Nummer eins und bald befallen die gefährlichen Pilzsporen mit dem Virus immer mehr Menschen. Wer infiziert ist, wird zwar nicht ganz zum Zombie, aber relativ zombie-esk – der Körper versucht immer wieder, wie eine Schallplatte mit Sprung, Routinehandlungen wie das gemeinsame Familienessen abzuspielen, während die Infizierten bereits hirntot sind. So spielt sich im Verlauf des Buches noch die ein oder andere morbide Szene ab. Während Candace das Büro ihres Unternehmens hütet, zerfällt die Welt „draußen“ immer mehr und schließlich muss sie einsehen, dass sie im Büroturm nicht länger sicher ist. Also macht sie sich auf die Suche nach weiteren Überlebenden.
Das ENDE beginnt, noch bevor man sich dessen bewusst ist. Es fällt einem überhaupt nicht auf.
Eigentlich wollte ich keine Romane zur Pandemie mehr lesen – doch da „New York Ghost“ einerseits bereits lange vor Corona erschienen ist und ich es zweitens ja eigentlich schon gelesen habe, war die Berührungsangst weg. Zum Glück – denn sonst hätte ich einen meiner Lieblingsromane für dieses Jahr verpasst. Der Roman dreht sich größtenteils um die Gegenwart von Candace, verwebt aber auf angenehme Weise Episoden aus ihrer Jugend und Kindheit, als sie mit ihren Eltern von China nach Amerika gekommen ist, worauf eine entbehrungsreiche Zeit folgte. Der Vater versuchte, sich in der harten Businesswelt einen Namen zu machen, während ihre Mutter mit Heimarbeit noch etwas zur Haushaltskasse beizusteuern versucht. Und mittendrin die kleine Candace, die neidisch auf die Konsumgüter der amerikanischen Kinder blickt, erstaunt von diesem Luxus, den sich alle leisten können.
Als Erwachsene hat Candace sich von ihren Eltern abgekapselt, hält nur noch Kontakt, wenn nötig, und trudelt durch ein Studium, bis sie zu ihrem aktuellen Job findet. Ihre chinesischen Wurzeln hat sie verkümmern lassen und wird mehr und mehr zu einer leeren Hülle: sie fühlt sich im neuen Job nicht zu hundert Prozent wohl, sondern absolviert lediglich, was von ihr erwartet wird. Die zahlreichen kleinen Routinen helfen ihr, durch die Tage zu kommen, und sie verteidigt die Hochburg des Büroturms und sinnbildlich ihr bisheriges Leben bis zum Schluss.
Fazit: Schonungslos und in teilweise schon etwas widerlicher Detailtreue erzählt Ling Ma von einer Pandemie, die das Leben aller Menschen verändert, von einer Endzeit, die richtig unter die Haut geht. Der Erzählstil ist großartig und auch die eben erwähnten ekelerregenden Details im späteren Verlauf des Buchs sind der Handlung angemessen. Im letzten Drittel nimmt die Story noch einmal richtig Fahrt auf und wird zur gruselig-beklemmenden dystopischen Diktatur. Ich habe das Buch verschlungen und kann es jedem ans Herz legen – auch, wenn die Thematik gerade omnipräsent ist.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise von Ehrlich & Anders als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Ling Ma / New York Ghost / CulturBooks Verlag / Gebundenes Buch, 360 Seiten / ISBN: 978-3-95988-152-4 / Erschienen am 23.03.21 / zur Verlagsseite