An Ideenreichtum nicht zu übertreffen – Cixin Lius Science-Fiction ist einfach großartig!
Als Wissenschaftler herausfinden, dass die Sonne schon bald erlöschen wird, schmiedet die Menschheit einen waghalsigen Plan. Mithilfe gewaltiger Raketentriebwerke soll die Erde aus ihrer Umlaufbahn herausgerissen werden, um in den Weiten des Alls nach einem neuen Heimatstern zu suchen. Und so begibt sich unser Planet auf eine lange, gefährliche Wanderschaft … In »Die wandernde Erde« sind elf meisterhafte und preisgekrönte Erzählungen vom Autor des Sensationsromans »Die drei Sonnen« versammelt.
Cixin Liu, seine Bücher und die chinesische Science-Fiction ist derzeit ja in aller Munde. Seit dem Erfolg der „Die drei Sonnen“-Trilogie kommt man an diesem Autor nicht vorbei. Und weil mir drei dicke Schinken zu je mindestens 600 Seiten einfach zu viel Commitment sind (obwohl ich zugeben muss, dass die Geschichte echt spannend klingt), wollte ich zunächst mal mit Cixin Lius nicht weniger groß vermarkteten Kurzgeschichten anfangen. Das habe ich letztes Jahr mit „Weltenzerstörer“ und „Spiegel“ getan. Als dann kürzlich der große Sammelband „Die wandernde Erde“ mit 11 seiner Novellen erschien, war ich angetan. Als er dann schließlich eintrudelte, kam dann doch eine kleine Enttäuschung, denn genau wie bei beiden Novellen befanden sich viele Seiten „Bloatware“ hinten im Buch – also Essays, Hinweise zur chinesischen Schreibweise der Namen und eine Leseprobe von „Die drei Sonnen“. Hmpf. Ach ja, der „Weltenzerstörer“ war auch bei den 11 Novellen dabei. Das hat mich ein wenig aufgeregt, denn wozu eine Kurzgeschichte einzeln herausgeben und sie dann doch in die Sammlung reinpacken? Meine Laune sankt ein wenig – bis ich mit der Lektüre des 688 Seiten-Kloppers (ok, minus 60 Seiten „Weltenzerstörer“ und ~40 für die Bloatware) angefangen und eine Novelle nach der anderen verschlungen habe!
Den Anfang macht die titelgebende Kurzgeschichte „Die wandernde Erde“, die zum chinesischen Neujahr ins Kino kam und auch hierzulande demnächst zu sehen sein wird – Netflix hat sich die Rechte gekauft! Doch zurück zum Buch. Der Klappentext oben fasst es eigentlich schon ziemlich gut zusammen. Es wird episch! Diese Geschichte hat mich so sehr gefesselt, dass ich sofort im Anschluss die Fortsetzung „Das Mikrozeitalter“, das auch in diesem Sammelband enthalten ist, eingeatmet habe. Um euch die „wandernde Erde“ nicht zu spoilern, werde ich nichts zum Inhalt dieser Kurzgeschichte verraten. Weiter gehts also mit Geschichten wie „Mit ihren Augen“, in der ein Reisender die „Augen“ einer jungen Frau mit auf die Erde nimmt, während sie mit Hilfe einer speziellen Brille alles sieht und empfindet, was auch der Reisende sieht und fühlt. Während der Mann die Schönheit der Erde nicht würdigen kann, bittet die Frau ihn, jede einzelne Blume zu betrachten und nachts aufzustehen, um den Sternenhimmel anzuschauen und den seichten Wind zu spüren. Was für ein besonders beklemmendes Schicksal die Frau ereilt hat, erfährt der Leser später. Auch diese Geschichte setzt Cixin Liu fort und die Fortsetzung kann der geneigte Leser im Sammelband finden. Das gefiel mir an diesem Buch richtig gut: dass alle Fortsetzungen der Geschichten mit enthalten waren.
Ich möchte euch jetzt gar keine Inhaltsangabe zu jeder der Geschichten liefern, das würde hier auch schlicht den Rahmen sprengen. Cixin Lius Novellen sind jedoch so abwechslungs- und ideenreich, wie ich Science-Fiction bisher noch nicht erlebt habe. Tunnel quer durch die Erde hindurch werden gebaut, die Dinosaurier verbünden sich mit den Ameisen und Geschöpfe, in denen Strom statt Blut fließt (nein, weder Roboter noch Androiden!), brechen aus ihrer Blasenwelt aus und erkunden den Weltraum. Neben der „wandernden Erde“ ist die „Blasenwelt“ tatsächlich meine Lieblingsgeschichte dieses Sammelbands. Oben genannte elektrische Geschöpfe entwickelten sich aus einer Welt ohne Gase und Flüssigkeiten, umgeben von Stein. Ihr Jahrtausende andauernder Kampf durch die Gesteinsschicht, die sie umgibt, war unfassbar spannend und wollte nicht so richtig in meinen Kopf. Eine mechanische Zivilisation ohne Kohlenstoff, die sich aus Gestein entwickelt hat und elektrisch ist! Unfassbar. Ebenso unfassbar ist der Moment, wenn diese Zivilisation nach zehntausend Jahren an die Oberfläche ihres Planeten stößt und zum ersten Mal Wind spürt:
Es war, als würde ich von einer großen unsichtbaren Hand zärtlich gestreichelt werden. Die Hand gehörte zu einer uns unbekannten Existenz, unendlich weit, in deren Angesicht ich zu einem anderen, völlig neuen Ich wurde.
Fazit: Ihr könnt euch vermutlich bereits denken, wie mein Fazit zu diesem Buch ausfallen wird. Wenn ihr (Hard) Science-Fiction mögt und mal in die chinesische Sci-Fi-Szene reinschnuppern wollt, schaut euch dieses Buch an. Cixin Liu schafft hier Welten, die fernab von der „Standard-Zukunft“ sind; hier gibts keine Androiden oder künstlichen Intelligenzen, die die Welt beherrschen; und trotz seiner großen Ideen bleibt Lius Fiktion glaubhaft. Ich kaufe ihm jeden einzelnen Satz ab! Eine kleine Warnung aber noch: Cixin Liu ist ja für seine harte Science Fiction bekannt, die sich nicht darum kümmert, Dinge großartig zu erklären. Ich war durch die zwei zuvor gelesenen Novellen allerdings vorbereitet und habe mich auf diesen speziellen Erzählstil gefreut. Lius Sci-Fi reicht euch also keine Definitionen und Zusammenhänge auf dem Präsentierteller; die Unwissenheit macht für mich hier den großen Reiz aus. Nachdem ich diesen Wälzer beendet habe, überlege ich stark, ob ich nicht doch in die „drei Sonnen“-Trilogie reinschmökern soll.
Cixin Liu, Die wandernde Erde | Heyne Verlag | Taschenbuch, 688 Seiten | ISBN: 978-3-453-31924-0 | Erschienen am 14.01.19 | Zur Verlagsseite