Eine gelungene Novelle, die einzig unter ihrer Kürze leidet. Gerne mehr!
China in der nahen Zukunft. Der junge, ehrgeizige Beamte Song Cheng stößt auf einen gewaltigen Korruptionsskandal. Doch plötzlich wird er selbst ins Gefängnis geworfen. Dort taucht ein geheimnisvoller Mann mit einem Supercomputer auf, der ebenfalls verfolgt wird – weil er alles weiß. Einfach alles. Wie kann das sein? Und welche Konsequenzen hat das? (zur Verlagsseite)
Nachdem ich nur Positives über die Bücher von Cixin Liu gehört hatte, habe ich mich mal seinem letzten in Deutschland erschienenen Werk, der Novelle „Spiegel“, angenommen. Zunächst war ich etwas überrascht, denn das Buch hat fast 190 Seiten, von denen allerdings knappe 80 mit Nachbemerkungen, Erläuterungen und zwei Leseproben gefüllt sind. Innerer Monolog Tina: „Na gut, ob bei 109 Seiten Länge ein guter Inhalt erzählt werden kann? Versuchen wir es mal.“ Die Handlung ist tatsächlich etwas konfus, der Leser wird mitten hinein geworfen, und viele Dinge bleiben auch unklar. Im Grunde geht es um einen Korruptionsskandal in China, der durch einen der neuerdings eingestellten Akademiker aufgedeckt wird. Dieser gerät in Bedrängnis durch Angestellte der betroffenen Firmen und selbst sein Chef rät ihm zur Vorsicht. Als „Vorsichtsmaßnahme“ wird Song Cheng ein Mord untergejubelt und er landet im Gefängnis, damit er sein Wissen nicht ausplaudern kann. Dort bekommt er eines Tages von einem jungen Mann namens Bei. Dieser junge Mann scheint alles zu wissen und hat dieses Wissen im Vorgeplänkel der Geschichte auch schon des Öfteren unter Beweis gestellt. Er weiß, was eine bestimmte Wache in der Hosentasche hat und was ein anderer Wachmann gefrühstückt hat. Der mysteriöse Mann beginnt, dem Gefangenen zu rekapitulieren, was dieser in den letzten Wochen getan hat, und kann auch Gespräche komplett nacherzählen, als hätte er mitgehört. Doch wie ist ihm das möglich? Woher hat er all dieses Wissen? Die Antwort ist ebenso hochspannend wie gefährlich, wird Bei doch schon seit einiger Zeit dafür vom Kommandant eines Großkonzerns verfolgt…
Warnung: Dieser Absatz enthält einige Spoiler, wer das Buch noch lesen möchte, springt vielleicht lieber zum Fazit. 🙂 Bei erzählt Song im Gefängnis alles, einfach alles. Warum er gerade dort und gerade ihm sein Wissen offenbart, macht erst im späteren Verlauf des Buches Sinn. Denn was Bei dabei hat, ist ein Superstring-Computer, ein Computer, der eine schier endlose Rechenkapazität aufweist und somit die kompliziertesten Berechnungen und Simulationen ausführen kann. Dieser Supercomputer wurde bisher nur für Wettersimulationen genutzt, doch Bei hat ihn mit speziellen Daten gefüttert und konnte so eine exakte Spiegelung, eine exakte digitale Kopie unseres Universums im Computer erzeugen. Mit dem Computer kann man zu einem beliebigen Punkt in der Vergangenheit springen und sogar Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart beobachten. Und hier fängt die Spannung an: Was für ein Potenzial hat ein solcher Computer? Wie würde die Menschheit mit einem solchen Wissen umgehen? Kann die gebündelte Wahrheit über das, was wir alles jemals getan haben, zu einer besseren Gesellschaft führen und in Zukunft vielleicht gar keine Korruption mehr aufkommen lassen? Und wie sähe eine solche Zukunft aus? Relativ am Ende des Romans erhält der Leser noch einen kurzen Einblick in die Zukunft und erfährt, was aus den Menschen geworden ist, die im „Zeitalter des Spiegels“ gelebt haben. Für meinen Geschmack ist dieser Einblick aber viiiel zu kurz! Ich hätte gerne mehr über dieses Zeitalter erfahren, das war sehr schade. Beis Verfolger stürmen jedenfalls den Raum, was ihnen dort aber vorgeführt wird, ändert alles: Bei zeigt ihnen den Spiegel, der alle Geheimnisse der Menschheit kennt. Marco Polo? Ein Betrüger. Troja? Hat es nie gegeben. Nach einem kurzen Gefühl der Erhabenheit Beis, da er unser Universum künstlich kopiert hat, stellt sich ein Trübsinn ein, der nicht mehr zu verdrängen ist. Der Kommandant begreift die enorme Tragweite des Spiegels, überlegt, wie man die Zukunft noch verändern könnte, in der die Gesellschaft „so klar wie ein Kristall“ sein wird. Welche Auswirkungen hätte eine solche Gesellschaft für die Menschheit?
Ich entdeckte, dass die Geschichte, wie wir sie kennen, im Wesentlichen ein Schwindel ist.
Fazit: Cixin Liu weiß auf alle aufkommenden Fragen des Lesers die Antwort, allerdings ist in einem 100-Seiten-Roman doch leider nicht sehr viel Platz, um diese befriedigend zu klären. Ich hätte mir gewünscht, dass dieses doch sehr spannende Gedankenexperiment doch zu einem ganzen Roman ausgebaut worden wäre, hat mir doch der Schreibstil sehr gut gefallen: nüchtern, schlicht und ganz im Stile der Hard Science Fiction. Die grundlegende Idee ist klasse und ich hätte gerne so viel mehr erfahren. „Spiegel“ ist nichtsdestotrotz eine gelungene Novelle, über die der Leser nach der Lektüre doch ein wenig grübelt.
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Heyne Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Cixin Liu, Spiegel. Heyne Verlag Taschenbuch, 189 Seiten ISBN: 9783453319127 Erschienen: 09.10.2017
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