Ein wunderbarer Roman, der auf zwei Erzählebenen viele Lebensgeschichten gekonnt verwebt – emotional und poetisch.
Es ist kurz vor Mitternacht, als drei junge Einbrecher in einen verlassenen Gemischtwarenladen eindringen, um nach ihrem Raubzug unterzutauchen. Doch Atsuya, Shota und Kohei wird keine ruhige Stunde bis zum Morgengrauen gewährt: Ein Brief wird von außen durch einen Schlitz in den Laden geworfen, obwohl in der Dunkelheit vor der Tür kein Mensch zu sehen ist. Als ihn die erstaunten Kleinkriminellen öffnen, beginnt eine unglaubliche Geschichte, die eine Nacht lang das Leben unzähliger Menschen verändern wird – und eigentlich begann sie vor über dreißig Jahren, als ein weiser alter Mann mit seinen Worten kleine Wunder vollbringen konnte.
Die meisten von euch kennen Keigo Higashino sicherlich als Thriller-Autor par excellence – ich persönlich hatte bisher noch nichts von ihm gelesen, bis „Kleine Wunder um Mitternacht“ um die Ecke kam. In Japan wurde dieser Roman gefeiert und es gibt sogar einen Film – Grund genug, die Nase mal hereinzustecken! Ich bin mit relativ wenigen Ideen an das Buch herangegangen, was sich als hervorragend herausgestellt hat, denn nimmt man den kleinen Kniff, dessen sich Higashino bedient, schon vorweg, versucht man vielleicht schon, sich alles zu erklären, das passiert. Wobei ich aber zugeben muss, dass es bei der Ausführung einige Plot Holes gab, die im Laufe der Lektüre auch nicht großartig erklärt, sondern als gegeben hingestellt wurden. Wer darüber hinwegsehen kann, darf sich auf ein dreißig Jahre und viele Charaktere umspannendes Mini-Epos freuen. Es geht also um drei Kleinkriminelle, die in einem leerstehenden Gebäude Zuflucht suchen. Dieses Gebäude entpuppt sich als Namiya Gemischwaren, dessen Besitzer vor dreißig Jahren damit geworben hat, die Probleme der Leute zu lösen – man muss nur einen Brief schreiben. Und als mitten in der Nacht ein Brief durch den Briefschlitz fällt, nachdem Herr Namiya vermutlich längst tot und sein Laden zurückgelassen wurde, sind die drei jungen Männer verwirrt – sie lernen das Geheimnis ihres Unterschlupfes erst im Laufe der Nacht kennen und vermuten zunächst einen Hinterhalt. Mehr aus Langeweile und mit wenig Motivation antworten sie der Verfasserin des Briefes, die sich „Mondhase“ nennt, und erhalten bereits wenige Sekunden später eine Antwort – wie das? So entspinnt sich ein Dialog zwischen Mondhase und den drei Einbrechern, der ungeahnte Folgen nach sich zieht.
»Am 13. September, von einer Minute nach Mitternacht bis Tagesanbruch, wird Namiya Gemischtwaren für eine einzige Nacht wiedereröffnen. Wir bitten jeden, der jemals um Rat gebeten und ihn erhalten hat, um seine ungeschminkte Meinung. Wie hat sich dieser Rat auf Ihr Leben ausgewirkt? Fanden Sie ihn hilfreich oder nutzlos? Bitte werfen Sie Ihre Briefe in den Schlitz im Rollladen, wie in alten Zeiten. Wir freuen uns darauf, von Ihnen zu hören.«
Abwechselnd beobachten wir als Leser die drei Einbrecher und das Leben der Briefeschreiber – angefangen bei der jungen Frau Mondhase. Wir beobachten, wie wertvoll ein von Herzen kommender Ratschlag für die Hilfesuchenden sein kann – selbst wenn sie letzten Endes der Empfehlung Herr Namiyas zuwider handeln. Im Verlauf des Buches lernen wir so nach und nach weitere Personen kennen, die sich damals hilfesuchend an Herrn Namiya gewandt haben, und beobachten eine Zeit lang ihr Leben. Besonders toll ist, dass alle Personen aus einem kleinen Ort kommen, deren Wege und Schicksale unerkannterweise miteinander verwoben sind. Und so begegnet man Personen aus den frühen Kapiteln zum Beispiel im späteren Verlauf des Buches als Nebenfigur am Rande erneut.
Sprachlich hat mir „Kleine Wunder um Mitternacht“ hervorragend gefallen, am Ende der Lektüre war ich jedoch vor allem Überrascht, wie wunderbar konstruiert der Roman doch war – es gibt zwar hier und da die bereits erwähnten Plot Holes, aber alles in allem muss ich zugeben, dass ich sehr begeistert war. Aufgrund der Vielzahl der Charaktere war ich leider öfters verwirrt, wer dies denn nun ist, und musste zurückblättern – am Ende der Lektüre hatte ich auch das Gefühl, nicht alle Fäden miteinander verbunden zu haben. Das ist sicherlich spannend für einen Reread, wenn man die groben Fakten bereits im Hinterkopf hat.
Fazit: Ein kurzweiliges Buch, dessen Feinheiten mich richtiggehend begeistert haben. „Kleine Wunder um Mitternacht“ ist perfekt konstruiert (liegt vermutlich an den Thrillern, die Higashino sonst schreibt) und bezaubert mit tollen Ideen und Geschichten. Eine klare Leseempfehlung! Und ich werde mir jetzt wohl den Film anschauen müssen. Einen kleinen Einblick in die Atmosphäre gibt folgender Song, der auch im Buch eine besondere Rolle einnimmt:
Hinweis: Der japanische Text im Foto oben basiert auf meinen bescheidenen Zeichenkenntnissen und Google. Fehler dürft ihr daher behalten. 😀
Eine weitere Besprechung inkl. Bonusmaterial: Bleisatz Blog
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Limes Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Keigo Higashino / Kleine Wunder um Mitternacht / Limes Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 416 Seiten / ISBN: 978-3-8090-2710-2 / Erschienen am 13.04.21 / zur Verlagsseite
Hallo Tina,
das Buch ist mir schon ein paar Mal über den Weg gelaufen. Deine Rezension hat mir jetzt große Lust gemacht, das Buch zu lesen. Danke dafür. 🙂
Herzliche Grüße
Marie