»Die jungen Leute reden nicht viel über Liebe. In diesem Land gibt es keinen Platz für Gefühle.« — Erschreckende Einblicke in die Unterdrückungsgesellschaft Marokkos, die in Deutschland nicht so medial präsent ist, wie sie sein sollte.
Sich zu seinen Gefühlen bekennen? Den Partner frei wählen? Alleine auf die Straße gehen? Von klein auf werden Mädchen in islamischen Ländern dazu erzogen, keine Schande über ihre Familien zu bringen. Ehebruch, Prostitution, Homosexualität werden in Marokko bis heute mit Gefängnis bestraft. Viele Frauen führen in Leïla Slimanis Geburtsland daher ein Doppelleben – zerrissen zwischen Tradition und Religion auf der einen Seite und dem Wunsch nach Selbstbestimmung auf der anderen. Sechzehn sehr persönliche Geschichten versammelt die preisgekrönte Autorin und Journalistin in diesem Band. Ebenso mutige wie berührende Bekenntnisse, die Einblick geben in den Alltag von Frauen und in eine Welt im Umbruch. (zur Verlagsseite)
Letztes Jahr habe ich Leïla Slimanis „Dann schlaf auch du“ gelesen, das das Tabuthema der mütterlichen Liebe behandelt. Kürzlich erschien „Sex und Lügen: Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt“, und da ich Leïla Slimanis Erzählsprache sehr mag und die Thematik mich sehr interessierte, war ich dann kurze Zeit später bereits in die Lektüre vertieft. Es handelt sich bei „Sex und Lügen“ um keinen Roman, sondern um eine Sammlung verschiedener Erzählungen und Bekenntnisse von Frauen aus Marokko, die nicht nur unter religiöser, sondern auch kultureller Unterdrückung durch die erzkonservative Gesellschaft leiden. Der Klappentext fasst es bereits wunderbar zusammen, es geht um die Unterdrückung der Frau, um die Tabuisierung der Sexualität. Die Gespräche der marokkanischen Frauen sind nicht, wie man möglicherweise vermutet, verschüchtert und leise, nein, diese Frauen leben ihr Leben im Geheimen aus, trotzen vor Stärke und wissen genau, was sie wollen – nur dass dies in Marokko unter der „gesitteten“ Oberfläche geschehen muss. Es erscheint fast so, als wäre in Marokko die Zeit stehen geblieben; Dinge, die für uns selbstverständlich sind, sind dort (und natürlich auch in sehr vielen anderen Orten der Welt!) nur versteckt und heimlich möglich, es hat sich sogar eine Art Subkultur entwickelt: Die Frauen verhalten sich nach außen entsprechend der Vorgaben des marokkanischen Staats, die Männer halten sich auch weitestgehend an die für sie viel freigiebigeren Gesetze (die Dominanz der Männer ist staatlich gesichert), aber hinter dem Rücken der Regierung – vorausgesetzt, man kann die Polizei mit genügend Geld bestechen, falls man erwischt wird – leben die Frauen und Männer Marokkos entgegen ihrer Unterdrückung. Die Jugend lebt sich sexuell aus, Frauen leben selbstbestimmt und führen Beziehungen außerhalb der Ehe – und parallel fordern Religion und Staat Enthaltsamkeit und Jungfräulichkeit der Frauen bis zur Ehe. Über dieses höchst asymmetrische System erzählen die Frauen in Leïla Slimanis Buch.
Es gibt kein Heil außerhalb der Ehe. Denn während sich die Gesellschaft dem Körper des Mannes gegenüber, der sich vergnügen will, nachsichtig zeigt, ist den Frauen außerhalb des ehelichen Schlafzimmers nichts erlaubt.
Fazit: Ein hochspannender und zugleich wahnsinnig schockierender Einblick in das Leben der Frauen Marokkos. Diese Frauen werden unterdrückt, dürfen kein selbstbestimmtes Leben führen und ihre Vagina geht alle etwas an, denn islamische Frauen in Marokko müssen zu ihrer Hochzeit ein Keuschheitszertifikat vorlegen. Ich habe die Gespräche in diesem Buch fassungslos verfolgt. Leïla Slimani schneidet mit diesem Roman natürlich ein brandaktuelles Thema an, sie gibt den islamische Frauen eine Stimme. Sie gibt dabei nicht nur die Gespräche der Frauen, mit denen sie spricht, wieder, sondern streut neben einem gelungenen und äußerst informativem Vorwort auch Anekdoten und eigene Erfahrung ein, aber hier und da liest man auch von Gerichtsfällen, die die Zornesfalten zum Vorschein bringen: so etwa der Fall eines 16-jährigen Mädchens, das sich das Leben nimmt, nachdem sie vergewaltigt wurde und von ihren Eltern die Ehe mit ihrem Peiniger arrangiert wurde. Ein Paragraph im marokkanischen Gesetzbuch besagt nämlich, dass Vergwaltiger nicht mehr strafechtlich verfolgt werden können, wenn sie die vergewaltigte Frau heiraten. Leïla Slimani versucht, mit ihrem Buch „Sex und Lügen“ Licht ins Dunkel zu bringen, all diesen unterdrückten Frauen eine Stimme zu geben.
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom btb Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Leïla Slimani, Sex und Lügen. btb Verlag Taschenbuch, 204 Seiten ISBN: 9783442716814 Erschienen: 10.09.18
Liebe Tina,
was für eine spannende Rezension und was für ein interessantes Buch! Das wandert direkt auf meine Wunschliste!
Man kann die beiden Bücher aber getrennt lesen, oder?
Viele Grüße
Jennifer
Hallo Jennifer,
Vielen Dank für die lieben Worte!
Und noch kannst du die beiden getrennt lesen! Die haben ja überhaupt nichts miteinander zu tun außer der Autorin
Liebe Grüße
Tina