Eine Wucht von einem Buch, ein wortgewandter Knaller, ein Jahreshighlight!
Charlie Berg hat ein schwaches Herz und die feine Nase eines Hundes. Es sind die frühen 90er, Charlie will ausziehen, nicht mehr der Depp der Familie sein, der alles zusammenhält, während Mutter am Theater die Welt verstört und Vater wochenlang bekifft im Aufnahmestudio seiner Band sitzt. Die Zivistelle im Leuchtturm ist zum Greifen nah – da läuft alles aus dem Ruder: Auf der Jagd mit Opa trifft ein Schuss nicht nur den Hirsch, sondern auch Opa. Und Charlies heimliche große Liebe Mayra, seine Videobrieffreundin aus Mexiko? Hat nichts Besseres zu tun, als den Ganoven Ramón zu heiraten…
Während ich diese Zeilen schreibe, kann ich es immer noch nicht ganz fassen, dass „Das eiserne Herz des Charlie Berg“ Sebastian Stuertz‘ Debütroman ist. Vor einiger Zeit entdeckt, war meine Neugier weniger durch den Klappentext, sondern durch viele positive Rezensionen geweckt. Die Dicke des Buches schreckte mich mit seinen knapp 720 Seiten auch längere Zeit ab, bis ich dann das Hörbuch bei Audible entdeckte und einfach mal reinlauschte. Doch auf das, was mich erwartete, war ich auf keinen Fall vorbereitet, denn nicht nur gab es Musikeinlagen, sondern auch einen verdammt talentierten Sprecher (Shenja Lacher), der nicht nur jedem Charakter seine individuelle Note gab, sondern auch Geräusche mit einem solchen Einsatz vertonte, dass ich bald das Buch komplett aus der Hand legte und komplett auf das Hörbuch wechselte. Bereits beim Hören des ersten Kapitels befiel mich ein solches Herzklopfen, dass ich wusste: Das wird groß, das wird toll! Doch kurz noch ein wenig ergänzend zum Inhalt: Ja, es geht um die Dinge aus dem Klappentext. Aber eigentlich erzählt dieses Buch alle wichtigen Etappen aus Charlies Leben – und das so wunderbar erzählt und mit Liebe zum Detail, ohne dabei zu langweilen. Die ganzen 720 Seiten lang (oder 21 Stunden Hörbuch, nur ein wenig beschleunigt) gab es keinen Part, der sich irgendwie gezogen hätte oder langatmig war. Sebastian Stuertz legt so ein Feingefühl an den Tag, dass es schon fast an Wahnsinn grenzt, und zeichnet so tolle Bilder, dass ich jede Szene direkt vor Augen hatte.
Als ich vor dem Forsthaus den Helm abnahm, hauchte mir der Wald seinen Atem entgegen. Zu der salzigen Luft, die mir die Nordsee in den letzten Tagen um die Nase geweht hatte, war das ein schöner Gegensatz: Fäulnis und Harz, Hirschurin und Androsteron. Hier gingen Tod und Geilheit Hand in Hand spazieren.
Allein an diesem kurzen Abschnitt merke ich schon, dass ich diesem Buch unmöglich gerecht werden kann – daher versuche ich es gar nicht und halte mich kurz, damit ihr euch nach dem Lesen dieser Rezension direkt auf das Buch – oder besser noch, das famose Hörbuch – stürzen könnt. Die Geschichte an sich ist unglaublich breit gefächert und gibt wie bereits erwähnt große Teile Charlies Leben wieder, dennoch ist der Unfall im Wald, der sich direkt zu Beginn abspielt, der Kleber, der das große Ganze zusammenhält und zu kuriosen Wendungen führt. Dazu kommt noch Charlies Talent, Gerüche komplett in ihre Bestandteile zu zerlegen – seine Spürnase bringt ihm im Laufe seines Lebens allerlei Gelegenheiten, Situtionen zu seinem Vorteil zu nutzen.
Das Buch an sich ist in mehrere Teile zerlegt, die zu jeweils unterschiedlichen Zeitpunkten in Charlies Leben spielen und dabei auch chronologisch hin und her springen. Doch dadurch, dass man die ganzen Charaktere im Verlauf des Buches immer besser kennenlernt, ist jeder neue Abschnitt ein wenig wie nach Hause kommen. Wir verfolgen Charlie in seinen Kindheitstagen, wie er in komplizierten Verhältnissen aufwächst, wie er seine besten Freunde Dave und Mayra (die später auch seine große Liebe wird) kennenlernt und die Schule meistert. Da sind dann auch Themen wie Mobbing, Sexualität und Selbstfindung groß im Fokus. Dass dies nicht irgendwann fad wird, liegt zum einen daran, dass immer mal wieder Krimi-Elemente in die Handlung einfließen (der Unfall im Wald), aber auch daran, dass sich unheimlich viele grandios charmante und brüllend komische Szenen abspielen, bei denen ich auch laut loslachen musste oder mein Getränk prustend versprüht habe. Dann aber wieder tritt der nachdenkliche, feinfühlige Charlie in den Fokus, der vom Autor wahnsinnig schöne Dinge in den Mund gelegt bekommt, sodass ich wirklich sehr viele tolle Textstellen markiert habe.
Ich rannte los in den Wald. Sofort wurde mir schwindelig. Mein Brustkorb schmerzte. Das alberne Herz des Charlie Berg, zu nichts zu gebrauchen, nicht für die Liebe, nicht für den Sport, gerade gut genug, um bei Schrittgeschwindigkeit das Blut zirkulieren zu lassen. Zwangsläufig reduzierte ich mein Tempo, dann blieb ich ganz stehen, stützte mich ab und horchte eine Weile in die Nacht hinein. Der Wald machte zaghaft da weiter, wo er unterbrochen worden war.
Fazit: Dieses Buch zähle ich jetzt schon zu meinen Jahreshighlights. Das mag im März (Zeitpunkt der Lektüre) nicht viel heißen, da noch viel kommt, aber lasst euch gesagt sein: „Das eiserne Herz des Charlie Berg“ ist eines der kurzweiligsten und großartigsten Bücher, die ich in der letzten Zeit gelesen habe. Absolute Lese- und Hör-Empfehlung! ♥
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom btb Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Sebastian Stuertz / Das eiserne Herz des Charlie Berg / btb Verlag / Gebundenes Buch, 720 Seiten / ISBN: 978-3-442-75851-7 / Erschienen am 16.03.20 / zur Verlagsseite
Hallo Tina,
ich habe den Roman letzten Sommer gelesen und war schwer begeistert! Wie du schon schreibst, man kann sich gar nicht vorstellen, dass es ein Debüt ist =)
Liebe Grüße
Eva