Ein Thriller, dem auf halbem Wege die Luft ausgeht und der statt brodelnder Spannung nur lauwarmes Geplätscher liefert.
London, Fundbüro des öffentlichen Nahverkehrs. Lester Sharp kümmert sich um herrenlose Fundsachen: Handys, Schlüssel, Portemonnaies – besonders gern um Kleidungsstücke und medizinische Gerätschaften. Er ist auch privat ein Sammler und Sonderling, der sich schwertut mit Frauen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Als er der jungen Erin begegnet, weiß er zunächst nicht, wie er sich verhalten soll – findet aber schon bald eine Möglichkeit, ihr nah zu sein. Näher, als es ihr lieb sein kann…
Eigentlich lese ich ja eher selten Thriller. „Ich will dir nah sein“ von Sarah Nisi hat mich jedoch mit seinem Klappentext ködern können. Doch leider hat sich meine Abneigung gegen „handelsübliche“ Thriller aus dem Mainstream-Programm wieder ein wenig bewährt… Lester Sharp ist ein eigenbrötlerischer Sonderling, der sich am liebsten von Menschen fern hält – mit der Ausnahme von Frauen. Er missversteht Gesten und Signale, deutet das Verhalten der Frauen falsch. Und so kommt es, dass er völlig besessen ist von seiner neuen Nachbarin Erin, einer grazilen Tänzerin. Er beginnt, sie zu stalken, belauscht ihre Gespräche und verfolgt sie… Und versteht dabei nicht, dass sie ihm keine Zeichen sendet, sondern sich vor ihm ekelt und in Ruhe gelassen werden möchte. Allerdings hat er durch einen Zufall den Zweitschlüssel ihrer Wohnung und kann sie zwingen, sich mit ihm zu befassen. Und so bricht er bei ihr ein und spielt mit ihrem Verstand, verrückt Dinge und lässt anderes mitgehen. Das funktioniert sogar richtig gut und Erin zweifelt ihre eigenen Erinnerungen an…
Klingt spannend und unangenehm, oder? Bereits nach den ersten Seiten war ich völlig gefesselt von Lesters merkwürdiger Art – wie er offensichtliche Dinge einfach falsch auslegt. Man könnte vielleicht annehmen, dass hier eine Erkrankung zugrunde liegt, doch darüber erfahren wir nichts. Lediglich, dass es bereits in der Vergangenheit einen Vorfall gab, wegen dem Lester in psychologischer Behandlung war. Parallel zu Lesters Stalker-Geschehen lernen wir auch Erin, die neue Nachbarin, besser kennen, und verfolgen ihre Tage. Die Spannung wird dadurch erzeugt, dass diese Perspektiven sich abwechseln und so das Tempo ein wenig anziehen. Bei „ein wenig“ bleibt es jedoch auch. Selbst in den spannendsten Momenten hätte ich mir noch eine Schippe mehr gewünscht – mehr Nervenkitzel, mehr Stalker-Grusel mit dem Aspekt des Gaslighting – doch leider plätscherte alles ein wenig vor sich hin, selbst, als es zum Showdown kam. Dieser kam mit einigem Augenrollen meinerseits daher und hat mich mehr genervt – ihr kennt doch sicher alle diese Filme, in denen der Böse am Ende erzählt, was er alles unternommen hat für seinen fiesen Plan? Genauso lief es ab. Und am Ende gab es noch einen viel zu gesprächigen Polizisten, der mich komplett aus dem Konzept gebracht hat.
Jedes Mietshaus lebt, dachte sie. Die Augen, Ohren, Gefühle der Bewohner im Haus verwandeln das Gebäude zu einem Lebewesen. Es atmet durch die Menschen, nimmt Anteil, beobachtet, steht immer da, geduldig. Es beobachtet sie. Es saugt sie auf. Sie schauderte. Mehrfamilienhäuser, Wohnungen, Mauern – sie gaukelten Privatsphäre nur vor. Es war eine Illusion.
„Ich will dir nah sein“ liefert insgesamt nichts, was ich aus meiner dürftigen Thriller-Lesekarriere nicht bereits schon kannte, und enttäuschte mich ziemlich. Auf der anderen Seite war dieser Psychothriller gut und schnell zu lesen, die Erzählsprache hat mir auch gut gefallen. Leider können diese sprachlichen Aspekte nicht die mangelnde Spannung und auch die fehlende Tiefe der Charaktere wettmachen. Lester wirkte teilweise wie die Karikatur des stereotypen Stalkers (ungepflegt, fettige Haare, Bauchansatz) und wir erfahren nichts zu seiner Kindheit und Jugend, was erklären könnte, warum er so ist, wie er ist. Auch bei Erin kratzt die Autorin an der Oberfläche, was im späteren Buchverlauf aber Sinn macht.
Fazit: Alles in allem kann ich „Ich will dir nah sein“ nicht guten Gewissens weiterempfehlen, da sogar ich als Thriller-Anfänger keine richtige Spannung empfunden habe – hartgesottene Thriller- bzw. Psychothriller-Fans können vielleicht sogar einiges vorausahnen, was die Handlung betrifft.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise von Bilandia als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Sarah Nisi / Ich will dir nah sein / btb Verlag / Taschenbuch, 336 Seiten / ISBN: 978-3-442-71891-7 / Erschienen am 10.05.21 / zur Verlagsseite
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